Amnesty Journal Afghanistan 13. Mai 2020

Aufklärung von Kriegsverbrechen in Afghanistan: Viele Beweise, wenig Mitarbeit

Drei Soldaten sitzen in einem Hubschrauber. Einer von ihnen lässt die Beine baumeln aus der geöffneten Heckklappe.

Trotz eines Abkommens zwischen den USA und den Taliban ist Afghanistan nicht befriedet. Der Internationale Strafgerichtshof will Kriegsverbrechen ahnden, kommt aber nicht voran.

Von Andrea Jeska

Es passiert nicht oft, dass sich einstige Kriegsgegner zusammensetzen und ein Abkommen beschließen. Und es passiert noch seltener, dass sich anschließend die internationalen Schlagzeilen über so einen Fortschritt in einem kriegszerrütteten Land nicht ändern. So aber geschieht es derzeit in Afghanistan. Trotz aller Bemühungen, das zerrissene und gebeutelte Land zu befrieden, nimmt die Zahl der Angriffe und Anschläge nicht ab. Und auch nicht die Zahl der zivilen Opfer. Ganz im Gegenteil.

Nach Angaben der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2019 rund 2.563 Zivilpersonen getötet und 5.676 verletzt. Der Juli war der tödlichste Monat in den vergangenen zehn Jahren des Konflikts. Der starke Anstieg sei vor allem auf Anschläge der radikalislamischen Taliban zurückzuführen, aber auch militärische Einsätze der afghanischen Streitkräfte und der US-Truppen hätten zivile Opfer verursacht, teilte UNAMA mit.

Im März entschied die Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Ermittlungen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuzulassen. Es geht um Taten, die seit 2003 in Afghanistan verübt wurden. Zunächst hatte es so ausgesehen, als würden diese nicht verfolgt. Im Frühjahr 2019 hatte die Vorverfahrenskammer des Gerichts Ermittlungen noch abgelehnt. Zur Begründung hieß es damals unter anderem, es mangele an der Bereitschaft zur Mitarbeit staatlicher Stellen, die Ermittler hätten zudem mit Haushaltszwängen zu kämpfen.

Dass die Entscheidung des Vorjahrs jetzt revidiert wurde, ist ein Etappensieg, aber noch lange kein Sieg für die Opfer. Denn von einer möglichen Strafverfolgung könnten neben den Taliban-Milizen auch afghanische Militärs sowie amerikanische Soldaten und CIA-Mitarbeiter betroffen sein.

Heftige und höhnische US-Reaktion

Und ob es Chefanklägerin Fatou Bensouda tatsächlich gelingen wird, einen der Täter vor Gericht zu bringen, ist fraglich. Die Anklagebehörde sammelt seit vielen Jahren Beweise für Völkerrechtsverbrechen, die während des Kriegs von allen Konfliktparteien verübt wurden, doch ist sie auf die Mithilfe der jeweiligen Regierungen angewiesen und muss die Möglichkeit haben, vor Ort, in Afghanistan und in den USA, Zeugen zu befragen und Dokumente einzusehen. Die afghanische Regierung will nicht kooperieren und hat ein eigenes Komitee gegründet, das Kriegsverbrechen aufdecken und die Täter zur Rechenschaft ziehen soll.

Heftig und höhnisch fiel die Reaktion der USA aus. US-Außenminister Mike Pompeo, ehemaliger Chef des CIA, sagte, dies sei "ein wahrhaft atemberaubender Schritt einer nicht rechenschaftspflichtigen politischen Institution, die sich als juristische Einrichtung ausgibt". Die US-Regierung werde alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um US-Bürger vor "diesem unrechtmäßigen sogenannten Gericht" zu schützen.

Dies ist keine leere Drohung. Die USA sind kein Vertragsstaat des Gerichtshofes und lehnen diesen schon seit Jahren strikt ab. Bereits im vergangenen Jahr hatten die USA angekündigt, Mitarbeitern des Internationalen Strafgerichtshofs die Einreise zu verweigern, wenn sie gegen US-Bürger in Zusammenhang mit deren Handeln in Afghanistan ermitteln. Kurz darauf entzogen sie Bensouda das Einreisevisum. Es ist damit zu rechnen, dass die USA auch Druck auf Litauen, Rumänien und Polen ausüben werden, um zu verhindern, dass Ermittler des Strafgerichtshofes dort ihre Arbeit zu geheimen Foltergefängnissen machen können, die der Geheimdienst CIA dort in den 2000er Jahren unterhielt.

Mit seiner jüngsten Entscheidung hat der IStGH zwar seine Unabhängigkeit unter Beweis gestellt und die Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen entkräftet, er lasse sich von den USA unter Druck setzen und stehe nicht auf der Seite der Opfer, doch wie es nun weitergehen wird, ist unklar.

Ein seltsames Abkommen

Derweil geht das Töten in Afghanistan weiter. Selbst die Corona-Pandemie, die das marode Gesundheitssystem überfordert, ändert daran nichts. Vor allem die Gewaltbereitschaft der Taliban ist weiterhin groß, obwohl die USA mit der bewaffneten Gruppe Ende Februar ein Abkommen ausgehandelt haben, das den Weg für Friedensgespräche mit der afghanischen Regierung freimachen sollte. Doch droht dem Abkommen dasselbe Schicksal wie den Ermittlungsversuchen des ICC: Es scheitert an der Realität.

Die Taliban kontrollieren nach 18 Jahren Krieg wieder fast 60 Prozent des Landes. Ihre Macht ist ungebrochen, und das Abkommen verlangte von ihnen nur geringe Zugeständnisse. Sie mussten lediglich zusichern, dass sich terroristische Kräfte wie Al-Qaida nicht weiter in Afghanistan ausbreitet, von afghanischem Boden keine Angriffe mehr auf den Westen ausgehen und innerafghanische Friedensverhandlungen in Gang kommen.

Ziel der Verhandlungen war nicht in erster Linie Frieden für Afghanistan, sondern der Abzug der US-Streitkräfte, an dem sowohl die USA als auch die Taliban ein Interesse haben. Dass die afghanische Regierung nicht an den Verhandlungen beteiligt war, und die Ängste der Zivilbevölkerung vor einer Rückkehr der Taliban kein Gehör fanden, sind Kollateralschäden – wie vieles in diesem Krieg. Nun kann US-Präsident Donald Trump seine Truppen rechtzeitig vor der nächsten Wahl nach Hause holen, die Gewalt in Afghanistan verringert sich jedoch nicht.

Afghanistan ist zudem seit der Präsidentenwahl im September 2019 politisch noch handlungsunfähiger denn je. Es dauerte fünf Monate bis der amtierende Präsident Ashraf Ghani zum Sieger erklärt wurde, sein Herausforderer Abdullah Abdullah hatte das Ergebnis angefochten. Die Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung haben noch nicht begonnen, weil es Streit gibt um die Freilassung von Gefangenen, die als Vorbedingung für die Gespräche gilt.

Derweil steigt die Zahl der Kriegsverbrechen, die der Internationale Strafgerichtshof aufdecken und strafrechtlich verfolgen will. Umgekehrt sinkt die Hoffnung auf Strafe für die Kriegsverbrecher, Folterer und Vergewaltiger.

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