Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 07. August 2020

Indigene endlich sichtbar machen

Sherri Mitchell sitzt auf einem Stein am Ufer eines Sees und blickt auf ihre in ihrem Schoß gefalteten Hände.

Plädiert für mehr indigene Sichtbarkeit: Die Indigenen-Aktivistin Sherri Mitchell im Frühjahr 2020.

Die Indigenen-Aktivistin Sherri Mitchell aus den USA spricht über den "Internationalen Tag der indigenen Völker", die Unsichtbarkeit der Indigenen und den Schutz vor Covid-19.

Interview: Tobias Oellig

Was bedeutet es Ihnen, dass es den "Internationalen Tag der indigenen Völker" gibt?

Solche Gesten sind meistens weitgehend symbolisch. Aber Symbole sind wichtig, weil sie die Überzeugungen von Menschen beeinflussen. Auch wenn sich die Umstände, denen indigene Völker auf der ganzen Welt ausgesetzt sind, nicht sofort ändern, repräsentiert uns dieser Tag als Menschen. Symbole haben ihren Platz im gesellschaftlichen Bewusstsein, der Tag hat Bedeutung. Aber er ändert nichts an der Dringlichkeit, Dinge zu ändern.

Die Covid-19-Pandemie hat diese Dringlichkeit noch verschärft. Inwiefern sind indigene Communities davon betroffen?

Lage, Bevölkerungsgröße, Nähe zu großen Städten: Jedes Volk ist anders betroffen. Hinzu kommt, dass einige indigene Völker in den USA nie Zugang zu fließendem Wasser hatten. Die wurden sehr hart getroffen. Zum Beispiel die Navajo-Nation. Sie hat es sehr schwer gehabt. Meine Community hingegen ist sehr klein, und wir leben auf einer Insel, das macht es einfacher, sich zu schützen.

Die Infektions- und Todesrate der Navajo-Nation war zeitweise die höchste im ganzen Land. In den Medien spielte das jedoch kaum eine Rolle.

Der Unsichtbarkeitsfaktor ist typisch für indigene Völker in den USA und auf der ganzen Welt. Indigene "unsichtbar" zu halten, ist seit der Kolonialisierung Teil des Gesellschaftsvertrags. Selten wird über die Themen berichtet, mit denen sich indigene Völker in diesem Land auseinandersetzen müssen. Oder es wird versucht, die Ureinwohner negativ darzustellen, wie zum Beispiel ihren Protest gegen die Dakota-Access-Pipeline. Der Unsichtbarkeitsfaktor ist Teil der Entmenschlichung. Was kann entwürdigender sein, als von einer ganzen Bevölkerung systematisch ignoriert zu werden?

Die Verseuchung des Trinkwassers in der 100.000-Einwohner-Stadt Flint (Michigan) hat zur Ausrufung des Notstands geführt, aber dass Millionen Indigene kein fließendes Wasser haben, ist kaum bekannt.

Es ist ja nicht so, dass es in ihrem Gebiet kein Wasser gibt, es wird vielmehr für den Steinkohlebergbau oder für ein Skigebiet in Arizona mitten in der Wüste abgepumpt. Im Gebiet der Navajo-Nation hat die Verseuchung des Wassers durch Uranunternehmen und die Ableitung von sauberem Wasser den Menschen unglaublichen Schaden zugefügt.

Das Indian Health Board bat die US-Regierung zu Beginn der Pandemie um Tests, Handschuhe, Masken und Schutzanzüge. Stattdessen schickte die Regierung Leichensäcke. 

Ja. Auch die finanziellen Soforthilfen, die an die indigenen Communities gehen sollten, wurden von der Trump-Regierung zurückgehalten, bis sie rechtlich gezwungen wurde, sie freizugeben.

Welche politischen Forderungen haben Sie in Richtung Washington D.C.?

Außer Donald Trump loszuwerden? (lacht) Eine gerechte Behandlung von Indigenen und People of Colour. Indigene und Schwarze Communities sind in den USA auch deshalb am stärksten von der Pandemie betroffen, weil beide systematisch Ungleichheit und Ungerechtigkeit erfahren. Wegen der wirtschaftlichen Benachteiligung fällt es diesen Communities sehr schwer, angemessen auf die Pandemie zu reagieren. Diese systematischen Rassismen müssen wir überwinden.

Glauben Sie, dass die Pandemie positive Veränderungen bewirken kann?

Das hängt von uns ab. Alles, was im Schatten lag, kommt nun ans Licht. Wir sehen die ganze Hässlichkeit dessen, was unter der Oberfläche schon die ganze Zeit da war. Soziale Ungerechtigkeit, Ungleichheit vor dem Gesetz, Diskriminierung durch die Polizei, in der Wirtschaft und vor allem auch in der Bildung. Als ich aufwuchs, durfte ich nicht an Vorbereitungsstunden für die Universität teilnehmen, weil der Direktor sich weigerte, indigene Schülerinnen und Schüler zuzulassen – er hielt sie für nicht intelligent genug. Diese Art der Bildungspolitik wird von Bildungsministerin Betsy DeVos fortgeführt, die Ungleichheit im Bildungswesen ist in den vergangenen vier Jahren größer geworden.

Sie engagieren sich in den USA und in Kanada. Der Titel Ihres neuen Buches lautet "Aktivismus heißt Verbindung". Was müssen Engagierte lernen oder verändern?

Selbst gewaltloser Aktivismus ist oft ein passiv-aggressiver Akt, der etwas zerstört, um es durch etwas anderes zu ersetzen. Aktivismus sollte integrieren, Unterschiede überwinden und gemeinsame Interessen finden, auf denen man aufbauen kann.

Die Interviewte

Sherri Mitchell, Jahrgang 1969, ist Anwältin, Lehrerin, Autorin und Leiterin der Land Peace Foundation, einer Organisation, die sich um die Rechte Indigener in den USA kümmert.

Das Buch

Sherri Mitchell: Aktivismus heißt Verbindung. Verlag w_orten & meer, Hiddensee 2020. Aus dem Englischen von Jen Theodor. 336 S., 12 Euro

 

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