Amnesty Journal 29. Mai 2020

Angeklagt, weil sie Menschenrechte verteidigen

Eine junge Frau hält ein Schild in den Händen, dass die Freilassung des türkischen Rechtsanwalts und Menschrenrechtsverteidgers Taner Kılıç fordert. Neben ihr stehen weitere Aktivisten.

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Wer sich in der Türkei für Menschenrechte einsetzt, riskiert viel. Im Verfahren gegen elf Menschenrechtsaktivisten, ­darunter die Amnesty-Vertreter Taner Kılıç und İdil Eser, wird ein Urteil erwartet. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft.

Von Janine Uhlmannsiek

Es war eine routinemäßige Schulung für Menschenrechtsver­teidiger in einem Hotel auf der idyllischen Insel Büyükada bei Istanbul. Um digitale Sicherheit sollte es gehen und um Menschenrechtsarbeit unter schwierigen Bedingungen. Doch am Morgen des 5. Juli 2017 stürmten Polizeikräfte das Hotel und nahmen die zehn Menschen im Konferenzraum fest – unter ihnen die damalige Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion İdil Eser und Peter Steudtner, einen der Trainer des Workshops.

Haltlose Anschuldigungen

In der türkischen Presse und in der Anklageschrift wurde die Schulung später als vermeintliches "Geheimtreffen" dargestellt. Vier Monate lang saßen acht der Menschenrechtsverteidiger in Untersuchungshaft. Der damalige Vorstandsvorsitzende von Amnesty in der Türkei, Taner Kılıç, der einen Monat zuvor in İzmir festgenommen worden war, blieb mehr als 14 Monate lang inhaftiert. Er wurde zusammen mit den zehn Aktivisten angeklagt.

Auch wenn die Menschenrechtsverteidiger derzeit nicht mehr in Haft sind – frei sind sie dennoch nicht. Der Strafprozess gegen sie läuft seit zweieinhalb Jahren, und immer noch drohen ihnen bis zu 15 Jahre Haft wegen "Terrorismus". Beim nächsten Prozesstag am 3. Juli 2020 wird ein Urteil erwartet.

Das Gericht müsste an diesem Tag alle elf Angeklagten freisprechen, denn für die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gibt es nicht den Hauch eines Beweises. Dass die elf Menschenrechts­aktivisten unschuldig sind, ist eindeutig. Doch auf eine unabhängige Gerichtsentscheidung und ein faires Verfahren kann man sich in der Türkei derzeit nicht verlassen. Ende November 2019 hielt der Staatsanwalt sein Schlussplädoyer und wiederholte darin all die haltlosen Anschuldigungen der Anklageschrift, als wäre im Laufe der zehn Prozesstage nicht jeder einzelne Vorwurf der Staatsanwaltschaft umfassend widerlegt worden. Am Ende forderte er für Taner Kılıç, İdil Eser und vier weitere Menschenrechtler Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. Für Peter Steudtner und vier weitere Angeklagte beantragte er Freisprüche.

Urteil mit Symbolkraft

Das politisch motivierte Verfahren gegen die elf Menschenrechtsverteidiger ist kein Einzelfall. In der Türkei reicht derzeit schon ein kritischer Artikel oder der Einsatz für Menschenrechte, um im Gefängnis oder vor Gericht zu landen. Die Justiz ist zum politischen Werkzeug geworden. Das erlebt auch die Anwältin Eren Keskin, gegen die mehr als 140 Gerichtsverfahren liefen, weil sie die Pressefreiheit verteidigt hat, oder der Kulturförderer Osman Kavala, der bereits seit mehr als zweieinhalb Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul festgehalten wird.

Osman Kavala, Eren Keskin, Taner Kılıç und die zehn Menschenrechtsverteidiger, die auf der Insel Büyükada festgenommen wurden, eint, dass sie wegen ihres Einsatzes für Menschenrechte und Freiheit verfolgt werden. Im Büyükada-Verfahren könnte das Gericht dem Unrecht endlich ein Ende setzen und die elf Angeklagten freisprechen. Das bevorstehende Urteil ist ein Härtetest für die Justiz. Es hat Symbolkraft für die gesamte Zivilgesellschaft in einem Land, in dem die Verfolgung kritischer Stimmen inzwischen zur Tagesordnung gehört.

Janine Uhlmannsiek ist Amnesty-Referentin für Europa und Zentralasien.

Weitere Informationen unter: amnesty.de/tuerkei

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